Die meisten der heute noch stehenden Gebäudeteile Thiestraße 14 im alten Dorfkern von Rethen wurden laut Bauzustandsplan von 1947 (Endnote 1) um das Jahr 1890 herum errichtet. Bauen ließ es wohl Heinrich Reinecke als Bäckerei mit Backstube und Wohnhaus in seiner Eigenschaft als „Anbauer Nr. 116“. Er war auch Bäckermeister und stammte aus Reden. Das Hauptgebäude stellt die klassische Grundform eines Anbauerhauses Typ 1 (Endnote 2) dar mit der zum Thieplatz ausgerichteten Haustür. Links davon war der Bäckerladen, dahinter war die Backstube in einem Anbau. Anfangs war der Zugang zum Laden an der linken Giebelseite des Gebäudes. Später wurde die Haustür auch als Zugang zum Bäckerladen genutzt. Danach wurde die Haustür an die rechte Giebelseite zur Thiestraße versetzt und die ehemalige Haustür war nur noch der Eingang in das Geschäft.
Das diese Gebäude im Besitz von Heinrich Reinecke waren und er dort die Bäckerei vor der Familie Sewig betrieben hat, lässt sich u.a. mit den jeweiligen Auszügen aus der Mutterrolle (Liegen- schaftskataster) und der Rethener Gemeindesteuerliste aus dem Jahr 1898/99 belegen (Endnote 3). In diesem Jahr zahlte beispielsweise der Bäckermeister Heinrich Reinecke 9 Reichsmark Einkommensteuer und sein Geselle Richard Reinecke hatte auf sein Jahreseinkommen in Höhe von 600 Reichsmark eine Steuer von 2,40 Reichsmark zu zahlen. Laut Mutterrolle wurde das Grundstück dann im Jahr 1901 an den Mehlhändler und Bäckermeister Friedrich Sewig übertragen. Bäckermeister Reinecke hatte im gleichen Jahr das Gebäude Hildesheimer Straße 46 (heute 346) gekauft (oder bauen lassen?) und betrieb seine größere Bäckerei nun hier.
Die „alte Bäckerei“ an der Thiestraße 14 wurde dann von 1901 über mehrere Generationen ein- hundert Jahre lang von der Familie Sewig betrieben. Der letzte Bäckermeister war Horst-Dieter Sewig. Begründer der Familientradition war sein Urgroßvater Mehlhändler und Bäckermeister Friedrich Sewig (*10.7.1857, +14.6.1908). Nach diesem hat hier sein Großvater Friedrich Sewig sen. sowie sein Stiefgroßvater Georg Weber und sein Vater Friedrich Sewig jun. als Bäckermeister gewirkt. Im Juni 2001 musste Horst-Dieter Sewig die Bäckerei jedoch krankheitshalber aufgeben. Bäcker Dirk Busche aus Sehnde verkaufte nun mit dem Back-Busche-Team seine Backwaren bis ca. 2011. Danach waren der alte Verkaufsraum und die Gewerbeflächen lange Zeit ungenutzt. Seit Mai 2019 wirkt und arbeitet hier Friseurmeisterin Carola Kherfani mit ihrem Team im „Haarwerk“.
Die Bäckerei Sewig
Erster Bäckermeister war 1901 der Mehlhändler (einmal auch als Mühlenpächter benannt) Simon Friedrich Hermann Sewig aus Bentorf bei Kalletal/Lippe. Er heiratete am 1.1.1882 in Ihme bei Hannover Marie Dorothee Eleonore Baae aus Roloven. Sein Vater war Johann Friedrich Ludwig Sewig. Die erstgeborene Tochter wurde 1877 noch in Roloven geboren, der zweitgeborene und einzige Sohn Friedrich Sewig (sen.) wurde am 2.1.1883 schon in Rethen geboren (Endnote 4). Danach folgten noch vier jüngere Schwestern.
Bäckermeister Friedrich Sewig wurde 1902 auch zum ersten Hauptmann (Endnote 5) der neu gegründeten Freiwilligen Feuerwehr Rethen gewählt. Er war dieses bis zu seinem plötzlichen Tod am 14.6.1908.
Schon früh wurde mit Pferd und Wagen das Brot und die Backwaren der Bäckerei Sewig zu den Kunden gebracht. Später lieferte Bäcker Georg Weber seine frischen Produkte mit dem Automobil aus und ab 1939 auch in das Nachbardorf Koldingen.
Friedrich Sewig sen. heiratete 1914 Luise (Lieschen) Bähre (Endnote 6). Sie war die Tochter vom Landwirt Heinrich Bähre aus der Schmiedestraße 7 (Endnote 7). Im November 1914 wurde Sohn Friedrich Sewig jun. geboren (Endnote 8). Der Vater diente im seit August 1914 ausgebrochenen I. Weltkrieg in der 2. Batterie des Königlich Bayrischen 1. Fuß-Artillerie Regiments. im Juli 1916 wurde er in Frankreich durch Brand- granaten schwer verletzt worauf er vier Tage später im Lazarett „Zum Weißen Roß“ in Braun- schweig verstarb. Beerdigt wurde Friedrich Sewig sen. in Rethen (Endnote 9). Er war übrigens Mitglied im Rethener Männerquartett und wurde 1913 zum Kassierer des Chors gewählt.
In der Feldbäckerei hatte Friedrich den Bäckermeister Georg Weber aus Bennigsen kennengelernt. Es wird berichtet, dass Friedrich nach seiner schweren Brandverletzung Georg bat – er hatte wohl selber keine Hoffnung auf Genesung – Lieschen bei der Arbeit in der Bäckerei zu helfen, zumal Georg auch Bäckermeister war. Als Georg nach Rethen kam, war Friedrich schon begraben. Georg arbeitete in der Bäckerei und heiratete 1920 (?) die Witwe Luise Sewig. 1922 wurde Tochter Marlis und 1924 (?) Sohn Georg jun. geboren.
Im Jahr 1931 gab es noch zwei weitere Bäckereien für die rund 1.600 Einwohner in Rethen. Das waren die Betriebe von Fritz Bolte in der Peiner Str. 12 und Hermann Weiß in der Hildesheimer Str. 46 (heute 346). Dieser hatte die Enkeltochter von Bäckermeister Heinrich Reinecke geheiratet und führte die Geschäfte weiter. Er bot neben seinen Backwaren auch Kolonialwaren, Tabak, Zigarren und Zigaretten an. Seine Spezialität war stets frisch gebrannter Kaffee.
Georg Weber jun. heiratete nie, bewirtschaftete aber später den Hof seiner Großeltern Bähre in der Schmiedestraße 7. Mit 45 Jahren starb er 1969. Marlis war in 1. Ehe mit Karl Hörstgen verheiratet. Kennengelernt hatten sie sich während seines Wehrdienstes in der Flakeinheit in Rethen. Aus der Ehe ging Karl-Heinz (Kalle) Hörstgen hervor, der übrigens ebenfalls das Bäckerhandwerk erlernte und seinen Meister machte. Nach der Scheidung war Marlis in 2. Ehe mit Herbert Elstner verheiratet und Günter sowie Volker wurden geboren.
Friedrich Sewig jun. erlernte den Bäckerberuf bei seinem Stiefvater Bäckermeister Georg Weber und machte ebenfalls seinen Meister. 1940 heiratete er Ilse Wehler (Endnote 10). Sie wurden Eltern von drei Kindern Ingrid (*1941), Horst-Dieter (*1944, + 2020) und Joachim – Jochen (* 1947). Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm Friedrich die Bäckerei 1945 von seinem Stiefvater. Diesem war die Arbeit zu schwer geworden zumal er sich auch um den Hof in der Schmiedestraße kümmern musste. Friedrich jun. war ebenfalls Mitglied im Rethener Männerquartett. Die ersten Chorproben nach dem Krieg ließ er in seiner immer warmen Backstube durchführen.
Nachdem der Lebensmittelhändler Block in der Nachbarschaft seinen Laden in den 1960er Jahren geschlossen hatte, nahm Friedrich jun. auch Lebensmittel in das Angebot der Bäckerei. Dafür musste er extra eine Prüfung ablegen. In der Silvesternacht 1962 brannte der Hof Conrad Reinecke in der Nachbarschaft der Bäckerei (Endnote 11), Brandursache war ein Feuerwerkskörper. Während des Einsatzes und der strengen Kälte bis minus 17 Grad Celsius konnten die Feuerwehrleute sich in der Backstube immer wieder aufwärmen. Der Feuerwehreinsatz war erst am 2.Januar 1963 beendet.
Auch die Hochwasser der Bruchriede erschwerten ab und an den Betrieb der Bäckerei, wie bei- spielsweise in den 1940er Jahren, im Februar 1970 oder zu Beginn des Jahres 2003. So wurde die Tür zum Verkaufsraum entweder zugemauert oder mit Sandsäcken abgedichtet.
Horst-Dieter entschied sich ebenfalls für den Bäckerberuf und wurde Meister. Im Januar 1976 übernahm er die Bäckerei von seinem Vater. Die Bäckerei war weiterhin weit und breit bekannt für das gute Gersterbrot und den schmackhaften Kuchen. Die Bäckerei belieferte beispielsweise die Kantinen der Zuckerfabrik, HASTRA und der IBM-Außenstelle im Rethener Gewerbegebiet. Auf dem Thieplatz vor dem Geschäft, rund um die Friedenseiche, wurden auch viele 1. Mai-Feiern durchgeführt. Seit Anfang der 2000er Jahre werden diese nun im Bereich des 1999 neu eröffneten Marktzentrum Rethen gefeiert.
Krankheitsbedingt musste Horst-Dieter seine Bäckerei im Juni 2001 aufgeben. Ab dem 31. Juli 2001 begann das Back-Busche-Team (Bäckerei Dirk Busche aus Sehnde) mit dem Verkauf ihrer Backwaren. Sie blieben ca. zehn Jahre bis Mitte 2011. Während dieser Zeit erlebte das Back-Team 2003 auch ein Hochwasser in Rethen.
Danach waren der alte Verkaufsraum und die Gewerbeflächen lange Zeit ungenutzt. Seit Mai 2019 hat Friseurmeisterin Carola Kherfani mit ihrem Team „Haarwerk“ hier ihr Domizil.
Horst-Dieter war Handballer im TSV Rethen und Mitglied in der Schützengesellschaft Rethen. Anfang 2016 trat er in die Arbeiterwohlfahrt Rethen ein. Dort nahm er montags oft an den Klön- und Spielenachmittagen teil, auch zu den anderen geselligen Runden kam er gerne. Zuletzt schaffte er es krankheitsbedingt nicht mehr mit seinem Rollator. Im Mai 2020 verstarb Horst- Dieter Sewig (Endnote 12), der letzte Bäckermeister vom Thieplatz in Rethen.
Geschichte zur Entstehung des hervorragenden Vollkorngersterbrotes
Der Cousin von Horst-Dieter Kalle Hörstgen machte seine 3-jährige Bäckerlehre bei Onkel Friedrich Sewig jun., dem Vater von Horst-Dieter. Onkel Friedrich musste etwas erledigen und beauftragte Kalle sich um das Brot und die korrekte Backmischung zu kümmern. Aber etwas funktionierte nicht, Kalle hatte noch Teig übrig! Was tun? Er mischte den gesamten Teig noch einmal – und so entstand die Basis für das wunderbare Vollkorngersterbrot. Dieses fand auch Onkel Friedrich gut und erst die Kunden – sie liebten es! Von diesem Zeitpunkt an war das Vollkorngersterbrot ein wichtiger Bestandteil des Sortiments in der Bäckerei Sewig.
Endnoten
- Bauzustandsplan von 1947, Stadtarchiv Laatzen
- Anbauerhaus Typ 1 laut Helmut Flohr aus „Entlang der Hildesheimer Straße in Grasdorf“, 2010
- Stadtarchiv Laatzen
- Bäckermeister Friedrich Sewig * 2.1.1883 in Rethen, + 14.7.1916 im Lazarett in Braunschweig, in Rethen beerdigt
- Chronik, 75 Jahre Freiwillige Feuerwehr Rethen, 1977
- Luise Weber, verwitwete Sewig, geb. Bähre * 14.7.1894 in Rethen, + 7.12.1975
- Adressbuch Rethen 1927
- Friedrich Sewig * 15.11.1914, + 25.3.2000
- Daten aus der Gefallenenliste I. Weltkrieg, Schulchronik Rethen
- Ilse Sewig geb. Wehler * 12.10.1912 Uetze, + 4.7.1998 Rethen, Heirat am 10.2.1940 in Rethen
- Chronik, 75 Jahre der Freiwilligen Feuerwehr Rethen, 1977
- Horst-Dieter Sewig * 27.05.1944, + 2.05.2020